S. Ward: Untied Kingdom. A Global History of the End of Britain

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Titel
Untied Kingdom. A Global History of the End of Britain


Autor(en)
Ward, Stuart
Erschienen
Anzahl Seiten
IX, 691 S.
Preis
£ 30.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Almuth Ebke, Neuere und Neueste Geschichte, Universität Mannheim

“Great Britain has lost an empire and has not yet found a role.” – Diese oft zitierten Worte des ehemaligen amerikanischen Außenministers Dean Acheson verweisen darauf, dass die Transformation Großbritanniens von einer Imperial- zu einer europäischen Mittelmacht keine leichte war. Aber nicht nur außenpolitisch war der Verlust des Empire einschneidend. Auch die weitere Existenz und die konkrete Ausgestaltung einer gemeinsamen britischen Identität, wissenschaftlich und öffentlich seit den 1990er-Jahren mehrheitlich unter dem Begriff der Britishness verhandelt, stand zur Disposition. Seit Beginn des Dekolonisationsprozesses ist deshalb in verschiedenen Arbeiten immer wieder der Zerfall oder das Ende Großbritanniens ausgerufen worden. Stuart Wards neuestes Buch Untied Kingdom. A Global History of the End of Britain untersucht eben jenen Wandel (und Niedergang) der imperialen Vorstellung von Britishness von der Mitte des 20. Jahrhunderts bis in die frühen 1980er-Jahre. Seine Perspektive ist erfrischend: Obgleich sein Fokus auf Großbritannien liegt, versteht er Britishness als Vorstellung gemeinsamer kultureller Zugehörigkeit, die in den unterschiedlichsten Orten des British Empire gefunden werden konnte. Ziel des Buches ist es, die Diversität unterschiedlicher Erfahrungen unter dem Rubrum Britishness ernst zu nehmen. Jedes Kapitel greift dabei einen sozialen, kulturellen oder institutionellen Aspekt als Prisma heraus, um zu zeigen, wie Britishness zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten gedacht, erlebt, kritisiert und schließlich (wenn auch zwiespältig) in der Zeit nach 1945 verworfen wurde. Ward schreibt dabei eine Geschichte des Verfalls – und zwar souverän, anregend und lesenswert.

Das Buch ist in drei chronologisch aufeinanderfolgende Teile gegliedert: Der erste Teil fungiert als Prolog, in dem Britishness als imperiale Projektionsfläche vom späten 19. bis Mitte des 20. Jahrhunderts vorgestellt wird, während der zweite Teil mit einem zeitlichen Fokus auf die 1940er- bis in die frühen 1960er-Jahre die unterschiedlichen Klaviaturen von Britishness vorstellt und wie diese im Zuge des Dekolonisationsprozesses brüchig werden. Der dritte Teil untersucht die politischen Auswirkungen dieser Veränderung von Britishness mit einem zeitlichen Schwerpunkt auf den 1960er-Jahren.

Britisch zu sein, sei Antwort auf die Frage nach der Einheit in der Vielfalt im heterogenen Flickenteppich des Empire gewesen; seine Funktion habe darin bestanden, die Beziehungen zwischen sehr heterogenen Gemeinschaften zu strukturieren und zu vermitteln. Britishness ist somit für Ward ein modernes Phänomen, das sich den klassischen Nationalismustheorien entziehe: Es verfüge zwar über alle Charakteristika von Nationalismus (Sprache, Geschichte, Ethnizität, geteilter Souverän, wenn nicht Souveränität), und schaffe es, moralisch verbindliche Verpflichtungen zu schaffen, beziehe sich aber nicht allein auf einen national verstandenen Territorialstaat. Dabei ist Britishness mitnichten egalitär, im Gegenteil: Ward verwendet den Begriff des „Greater Britain“, um die im Konzept der imperialen Britishness angelegte Rasseordnung zu konturieren. Diese Konzeption habe sich in Konkurrenz mit einer inklusiveren Form von Britishness befunden, die beispielsweise karibischen Mittelklassefamilien die Möglichkeit gegeben habe, sich sozial abzusetzen. Ohne die Forderung nach Volkssouveränität, die der klassische Nationalismus erwarten lasse, habe Britishness subversives Potenzial, das sich vor allem dann zeigte, als die verbindende Klammer des Empire weggefallen sei: Das Ende des Empire habe zu einer „Balkanisierung“ von Britishness geführt (S. 24), die weit über die Grenzen des Vereinigten Königreichs hinausgegangen sei und weite Teile (ehemals) kolonialer Gebiete betroffen habe. Die Wurzeln dieses Verfalls seien jedoch schon früh angelegt: Ward lokalisiert erste Wandlungsprozesse in der Zwischenkriegszeit.

Im zweiten Teil werden die vielfältigen Ausdrucksformen der britischen Identität vorgestellt: Hier diskutiert Ward die Bedeutung der Vorstellung des „Zuhauses“ als Symbol imperialer Zugehörigkeit, anhand der Rolle von Staatsbürgerschaft die Themen koloniale Einwanderung und sogenannte „Race Relations“, anhand des Themas der Menschenrechte den Prozess der Dekolonisierung, am Beispiel des Beitritts des Vereinigten Königreichs in die Europäischen Gemeinschaften die wirtschaftliche Dimension imperialer Britishness sowie anhand eines prominenten rhodesischen Kriminalfalls die Vorstellung imperialer Rechtssicherheit und deren Ende.

Besonders das Kapitel zur semantischen Neuvermessung von ‚britisch‘ in den internationalen Beziehungen ist aufschlussreich. Ward zeichnet sorgfältig und überzeugend nach, dass diese Veränderungen in den Begrifflichkeiten niemals gänzlich freiwillig gewesen seien, sondern der Bürokratie von den Ereignissen aufgezwungen worden seien. Ward spricht hier von einer Reihe chronologisch und inhaltlich aufeinander aufbauender Eskalationsstufen zwischen 1945 und 1961, die ihren Ausgangspunkt in den Plänen für die Unabhängigkeit Indiens nahmen. Nachdem die Unabhängigkeit Indiens semantisch als „transfer of power“ (S. 106) gefasst worden sei, um die tatsächliche Entwicklung kolonialer Unabhängigkeit zu verschleiern, habe sich die nächste Auseinandersetzung um die genaue Bezeichnung des Commonwealth gedreht: Indien habe als frisch ausgerufene Republik darauf bestanden, das Attribut ‚britisch‘ im Namen des Commonwealth zu streichen, was vor allem bei den australischen und neuseeländischen Regierungen auf Kritik gestoßen sei. Ein Kompromiss sei erst 1949 in der London Declaration gefunden worden, seit der die Bezeichnung ‚britisch‘ im Namen des Commonwealth optional geworden sei – eine Anomalie in den internationalen Beziehungen. Die britische Regierung habe daraufhin aus Rücksichtnahme gegenüber den Mitgliedsstaaten begonnen, den Begriff des ‚United Kingdom‘ für die imperiale Metropole anstelle der eingeführten Begriffe ‚Britain‘ und ‚British‘ zu verwenden. Diese sprachliche Neuorientierung hielt jedoch als rigide Richtlinie nicht lange: Nachdem sich die Regierung Harold Macmillans bei ihren kanadischen, australischen und neuseeländischen Gegenübern rückversichert hatte, wurde der Begriff ‚britisch‘ als Nationsbezeichnung im September 1961 ohne großes Aufheben wieder eingeführt. Allerdings galt er nun allein für die Zwecke des Vereinigten Königreichs.

Im dritten Teil befasst sich Ward mit den politischen und gesellschaftlichen Folgen des Dekolonisierungsprozesses im Vereinigten Königreich der 1960er- bis in die frühen 1980er-Jahre. Hier werden bekannte Themen wie die Neudefinition des britischen Einwanderungsrechts angesichts kolonialer Fluchtbewegungen oder die Auswirkungen des Niedergangs des Empire auf national verstandene Konfliktherde wie den irischen Bürgerkrieg oder die schottische und walisische Unabhängigkeitsbewegung untersucht. Eines der spannendsten Kapitel ist sicherlich Wards Analyse des vor allem in den 1960er-Jahren verbreiteten Genres der Niedergangsliteratur. Ward wählt auch hier einen vergleichenden Ansatz und setzt die britische Literatur in den Kontext ähnlicher Debatten des Old Commonwealth. Die Vorteile dieses Ansatzes liegen auf der Hand; so können die Nuancen und Leerstellen imperialer Britishness herausgearbeitet werden. Denn die Sorge um den Niedergang trieb vor allem die Staaten des ehemaligen Greater Britain wie Kanada, Australien und natürlich das Vereinigte Königreich um; in dieser eher diffusen Übung nationaler Selbstvergewisserung habe die Perspektive afrikanischer und karibischer Intellektueller ebenso gefehlt wie eine Kritik am Kolonialismus. Der Nachteil dieses Ansatzes besteht darin, dass auf diese Weise die ebenso wichtigen ökonomischen oder kulturellen Faktoren gegenüber dem imperialen Strang des Verfallsnarrativs abgewertet werden.

Wards Ansatz ist innovativ und gewinnbringend: Indem er Britishness als „rogue variant of nationalism“ (S. 70) klassifiziert, kann er dem Konzept in seinen unterschiedlichen Schattierungen nachspüren und Veränderungen in seinen Ausprägungen skizzieren. Diese neue Perspektive zeigt sich auch in der Darstellung der einzelnen Kapitel, in denen teils bekannte Themen, wie das der Reform des Staatsbürgerschaftsrechts, durch ansprechende empirische Beispiele verdeutlicht werden. Lobenswert ist auch die Art, mit der Ward indigene Perspektiven integriert und durch teils akribische Archivarbeit Agency an Personen zurückgibt, die sonst in der Geschichte von Britishness übersehen werden: Genannt seien etwa James Dhlamini und Victor Mlambo, zwei Mitglieder eines gewalttätigen ZANU-Arms, die nicht wegen des von ihnen begangenen Mordes zum Tode verurteilt wurden, sondern wegen versuchten Mordes durch Brandstiftung. Ward arbeitet nicht nur die juristischen Unregelmäßigkeiten des Falles auf, sondern schreibt die Täter und das, was über ihren Hintergrund herausgefunden werden konnte, wieder in die Geschichte hinein.

Eine der vielen Leistungen dieses Buches besteht darin, die Perspektive zu verändern, aus der wir auf die ‚Britishness‘ blicken. Britishness, oft als nationale Identität und damit als rein britische Angelegenheit aufgefasst, liest Ward als inhärent imperial. Tatsächlich klassifiziert er die ‚kleine‘ Sichtweise der Britishness, die an die Grenzen des Vereinigten Königreichs gebunden ist, als vergleichsweise späte Interpretation des Konzepts.

Hier stellt sich die Frage, ob eine erweiterte zeitliche Perspektive und räumlicher Zuschnitt nicht gerade das abschließende Urteil zum Stellenwert von Britishness innerhalb des Vereinigten Königreichs verändern würde. Mit dem gewählten Zuschnitt des empirischen Untersuchungszeitraums von den 1940ern- bis in die frühen 1980er-Jahre (wobei der Großteil der Kapitel in den 1960er-Jahre endet), erzählt das Buch vor allem eine Geschichte des imperialen Niedergangs. Gerade innerhalb des Vereinigten Königreichs liefen die explizitesten Debatten um Britishness jedoch erst seit den 1980er- sowie in den 1990er- und 2000er-Jahren ab: nicht zuletzt deshalb, weil die metropolitane Zeit der internen Dekolonisierung oftmals verzögert und langwieriger vergeht als die strukturellen und politischen Prozesse der Dekolonisation, die den engeren Rahmen des Buches setzen. So erweitert, zeigen die stark auf die territorialen Grenzen des Vereinigten Königreichs fokussierten späteren Debatten deutlich die Überlagerung nationaler und imperialer Zugehörigkeiten, Identitätskonstruktionen und Auffassungen von Britishness.

Offen bleibt im Buch jedoch die Frage nach historischen Kausalitäten: Neben den in der Einleitung genannten Faktoren der „Hypermobilität“ der 1950er-Jahre (S. 8), in denen koloniale Migrationsbewegungen liebgewonnene Narrative imperialer und nationaler Zugehörigkeit störten, sowie den globalen machtpolitischen Veränderungsprozessen im Kontext von Dekolonisierung und Kaltem Krieg hält sich Ward mit Erklärungen für die Entwicklungen, die er skizziert, eher zurück. Gerade hier wäre es jedoch spannend gewesen, die Verflechtung von innenpolitischen Themen mit globalen Transformationsprozessen stärker miteinander zu verzahnen. In der Architektur des Buches gesprochen hätte dann noch besser erklärt werden können, wie die Veränderungen in der Klaviatur imperialer Britishness (Teil II) zu den politischen Konsequenzen führten, die ihnen von Ward zugeschrieben werden (Teil III).

Ungeachtet dieser (wenigen) Kritikpunkte bietet Stuart Wards Buch eine anregende Lektüre, die es schafft, das Empire in all seinen Verflechtungen in die Geschichte von Britishness einzuweben. Ward liefert mit seiner Studie eine längst überfällige, spannend zu lesende und gleichzeitig an Fachdebatten höchst anschlussfähige Geschichte imperialer Britishness in Zeiten der Dekolonisierung.